Wir genießen es vermutlich alle, in urteilsfreien Räumen unterwegs zu sein. Und wir meinen damit frei von moralischen Urteilen anderer über uns zu sein. Für mich bedeutet das: frei von Etiketten, frei von Ver- oder Be-Urteilungen zu sein, frei davon zu sein, dass ein anderer Mensch eine klare Vorstellung davon hat, was richtig und falsch, was gut und böse ist oder ganz allgemein: wie etwas oder wir sein müssten. Und gleichzeitig ertappen wir uns immer wieder dabei, dass wir selbst eine ganz konkrete Vorstellung davon haben, wie etwas oder jemand zu sein hat….
Moralische Urteile
Moralische Urteile sind genau das: Bewertungen, die wir oder jemand anderes hat, über ein Verhalten oder eine wahrgenommene Eigenschaft. Wenn wir moralische Urteile haben, dann sagen wir, wie etwas sein muss und wir äußern uns darüber, ob wir etwas gut oder schlecht finden oder wie ganz generell etwas ist. Ein paar Beispiele gefällig? Hier sind sie: Das hast du toll gemacht! Das ist der letzte Mist! Du bist (zu) langsam! Bist du immer noch nicht gesund? Streng dich mehr an! Das ist unangebracht! Er ist immer launisch! Sie macht alles kaputt! Autos gehören abgeschafft – Autofahrer sind Umweltsäue! Radfahrer gehören verbannt – das sind weltfremde Ökofuzzis…. usw usw. Überlegen sie mal: welche Urteile über Dinge oder Menschen haben sie? Und wie leicht oder schwer machen sie es diesen Menschen oder Dingen, sich ihrem Urteil zu entziehen? Kennen sie Situationen, wo sie vermuten jemand hat ein Urteil über sie? Wie leicht oder schwer fällt es ihnen, ihrem Wunsch nach Selbstbestimmtheit, Freiheit und nach Gesehen-werden-wie-sie-gesehen-werden-möchten noch nachzukommen? Genau… und allen anderen Menschen geht es vermutlich ähnlich. Wenn wir moralische Urteile über andere fällen, dann spielen wir letztendlich Gott: wir stellen uns selbst über diese Personen und setzen unseren Maßstab als Maß aller Dinge. Und wenn wir das alle tun – tja, dann sind Konflikte selbstverständlich.
Werteurteile
Manche Menschen behaupten nun, in der Gewaltfreien Kommunikation gäbe es keine Urteile mehr. Dem möchte ich gern widersprechen. Auch in der GFK urteilen wir eigentlich ständig – doch es ist eine andere Form des Urteilens, die ich gern mit Werteurteilen beschreiben möchte. Wenn wir ein Werteurteil haben oder aussprechen, dann urteilen wir nicht über jemanden oder etwas, sondern wir überprüfen, wie das von uns wahrgenommene Verhalten oder die wahrgenommene Eigenschaft unsere Bedürfnisse und unsere eigenen Werte gerade erfüllt – oder eben auch nicht. Wir erspüren, wie es uns mit etwas geht, was wir beobachten und welche unserer Bedürfnisse dann gerade erfüllt oder nicht erfüllt sind. Wir werten also das, was wir beobachten, dahingehend aus, wie sehr es dazu beiträgt, unsere Bedürfnisse gerade zu erfüllen und zu unserem Leben beizutragen. Und genau das sprechen wir dann aus. Wir benennen ggf. unser Gefühl und sagen vor allem – das ist immer wieder der zentrale Kern der GFK – welche unserer Bedürfnisse im Mangel oder in Fülle sind. Auch hier will ich gern ein Beispiel nennen, ich nehme dazu etwas, was ich eben schon beispielhaft erwähnt habe: Wenn ich diese vielen Fahrzeuge zur Hauptverkehrszeit hier in der Stadt erlebe, dann mache ich mir echt Sorgen um meine Gesundheit. Und mir wird auch Angst und Bange, weil ich einfach in einer Umwelt leben will, die in einem ökologischen und nachhaltigem Gleichgewicht ist. Klingt komisch? Vielleicht denken sie jetzt: so spricht doch kein Mensch! Ich kenne allerdings eine große Zahl an Menschen, die immer wieder versuchen, genau so zu sprechen: wie geht es mir gerade und was brauche ich. Und ich erlebe immer wieder, wie wohltuend es ist, wenn jemand genau so zu mir spricht: ich bin oft erleichtert, weil ich dann spüre, dass ich dennoch so gelassen werde wie ich bin. Ich muss mich nicht verändern, ich darf weiterhin sein. Und gleichzeitig erlebe ich, dass etwas, was ich getan habe, nicht zum Wohle des anderen beigetragen hat. Oft bedeutet es, dass ich dann merke, dass ich etwas traurig werde, weil ich genau das möchte und bin bereit mein Verhalten zu ändern – in völliger Freiheit und Selbstbestimmtheit, weil ich von niemandem gehört habe, wie ich zu sein habe. Ich werde ge-lassen. Bei mir klappt das allerdings nur dann, wenn ich wirklich spüren kann, dass die Person, die etwas zu mir sagt, eine moralurteilsfreie Haltung ausstrahlt.
Und gleichzeitig merke ich auch, wie lange es dauert, die Werteurteile-Ohren zu schärfen und zu trainieren. Und weil meine „Moralurteil-Ohren“ schon viel länger hören als die Werteurteile-Ohren, sind sie durchtrainierter und deshalb klappt es natürlich auch nicht immer, keine moralischen Urteile zu hören. Oft genug höre ich moralische Urteile, wo keine gesprochen wurden. Wenn ich das dann bei mir bemerke, will ich alles dafür tun, die anderen Ohren aufzusetzen und die Werte und Bedürfnisse des Sprechers doch noch nachträglich zu erforschen.
Dies ist der 2. Artikel der Serie Schlüsselunterscheidungen in der GFK. Die Serie wird fortgesetzt.
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