Eine der Schlüsselunterscheidungen der Gewaltfreien Kommunikation heißt „being giraffe vrs. doing giraffe“. Für uneingeweihte zunächst: die Giraffe ist das Symbol der gewaltfreien Kommunikation (GFK). Und soweit ich weiss geht die Geschichte, wie es dazu kam, so: Der Begründer der GFK, Dr. Marshall B. Rosenberg suchte nach einem Symbol für die Gewaltfreie Kommunikation und kam auf die Giraffe, weil er damals glaubte, die Giraffe sei das Landlebewesen mit dem größten Herzen. Denn die GFK wird manchmal auch „Sprache des Herzens“ oder „Sprache des Lebens“ genannt. Tatsächlich haben Elefanten viel größere Herzen als Giraffen, das wusste Marshall damals noch nicht. Und dennoch finde ich die Giraffe ein schönes Symbol: sie hat einen langen Hals und kann so ganz gut hinter die Dinge schauen. Und sie ernährt sich von Dornen. Ein Kuscheltier ist sie auch nicht. Alles in allem finde ich das sehr überzeugende Merkmale, bei der Giraffe zu bleiben und nicht zum Elefanten zu wechseln. Doch das, was ich bisher schrieb, ist zum Verständnis der heutigen Schlüsselunterscheidung eigentlich gar nicht bedeutend.
Was verstehe ich unter „doing giraffe“? Für mich bedeutet es, die Prozesse und Schritte der Gewaltfreien Kommunikation wir ein Werkzeug zu betrachten. Jemand, der das tut, wendet Empathie und authentischen Selbstausdruck der GFK als Technik an, um sein Ziel zu erreichen. Ähnlich einem rhetorischen Werkzeug werden dann die Prozesse der Gewaltfreien Kommunikation genutzt, damit man selbst das bekommt, was man möchte – und berücksichtigt dabei nicht, dass die andere Person auch Bedürfnisse hat, die sie erfüllen möchte. Man geht einfach seinen Weg, egal, was sonst noch so passiert. Letztendlich wird die andere Person genau das merken – und die GFK verteufeln als Manipulationsversuch. Etwas, was übrigens schnell passiert, wenn Menschen das erste Mal mit der GFK in Kontakt kommen und wunderbare Erfahrungen machen und ihr Erlerntes dann bei Menschen anwenden, die von der Giraffensprache noch nie etwas gehört haben. Sie fallen dann ziemlich schnell auf die Nase und ihr gegenüber verteufelt die GFK mit „geh mir weg mit deinem Psychokram / komischen Gequatsche!“. Anfängerfehler. Hab ich mehr als hundert Mal gemacht.
Genau das versucht die Gewaltfreie Kommunikation übrigens nicht: ein Werkzeug zu sein.
Wenn die GFK kein Werkzeug ist, was ist sie dann?
Für mich bedeutet „being giraffe“ eine bestimmte Haltung einzunehmen. Eine Haltung ist ja bekanntlich etwas, mit der ich auf die Welt schaue und in der Welt bin. Wie sieht die Haltung der GFK aus?
Die Gewaltfreie Kommunikation geht von einem positiven Menschenbild aus. Sie sagt, dass jeder Mensch aus einer positiven Absicht handelt – nämlich, um sich Bedürfnisse zu erfüllen. Die Haltung und das Menschenbild der GFK ist wie folgt: was immer ein Mensch tut, er tut zu jedem Zeitpunkt das bestmögliche, was er in dem Augenblick zur Verfügung hat. Es kann sein, dass er zu einem späteren Zeitpunkt merken wird, dass er neues gelernt hat und das, was er zu einem früheren Zeitpunkt getan hat, bedauert und nicht mehr als „beste Möglichkeit“ betrachtet. Dann können wir das betrauern. Doch zu dem Zeitpunkt der Handlung war es das beste, was verfügbar war. Das ist – alles in allem – eine sehr liebevolle und wohlwollende Betrachtung von eigenen Handlungen und denen anderer.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der GFK ist die Grundannahme, dass jeder Mensch gern zum Wohle anderer beiträgt – und zwar genau dann, wenn diese 3 Bedingungen erfüllt sind: der Mensch handelt freiwillig, die eigenen Bedürfnisse stehen dem nicht im Wege und drittens wenn der Mensch darauf vertrauen kann, dass seine eigenen Bedürfnisse genauso Berücksichtigung finden. Ohne diese 3 Voraussetzungen funktioniert es nicht.
Die Gewaltfreie Kommunikation geht auch von der Gleichwertigkeit der Bedürfnisse aus: es gibt niemanden auf der Welt, der bedeutendere Bedürfnisse hat als jemand anderes. Meine Bedürfnisse zählen genauso wie deine und genauso wie die eines dritten. Auch das – finde ich – ist ein sehr liebevoller Blick auf sich und andere.
Wenn nun jemand versucht, die Haltung der GFK einzunehmen, also „eine Giraffe zu sein“, dann versucht diese Person genau diese Haltung in ihr Leben zu integrieren. Dann versucht sie, in allem, was sie selbst und jemand anderes tut, die Bedürfnisse dahinter zu erkennen. Dann gibt es keine Schuld mehr sondern es gibt eine Person, die sich Bedürfnisse versucht zu erfüllen – und die Art und Weise wie sie das tut, ist nicht immer lebensbereichernd für das eigene Leben.
„Giraffe sein“ bedeutet auch, den Bedürfnissen der anderen Personen genauso viel Berücksichtigung einzuräumen wie den eigenen. Das heisst beispielsweise in Entscheidungen und im Suchen nach Lösungen die Bedürfnisse aller oder möglichst vieler mit einfließen zu lassen.
Die Haltung der GFK versucht zum Ausdruck zu bringen, dass alles miteinander verbunden ist. Dass alles, was da lebt auf wunderbare Weise miteinander verwoben ist, dass alles füreinander zur Erfüllung der Bedürfnisse beiträgt, dass es kein Entweder-Oder gibt sondern nur ein UND, ein miteinander, ein miteinander Verbunden und Verwoben sein. Und das eben jeder und jede und jedes einzelne ein individueller Teil eines noch größeren, schöneren zusammengehörenden Ganzen ist. Das ist für mich immer wieder ein Trost und eine Herausforderung zugleich.
Ohne diese Haltung von Liebe und Mitgefühl bleibt GFK immer ein Werkzeug, mit dem sich genauso manipulieren lässt, wie mit jedem anderen Werkzeug auch.
Ja, und wie immer, wenn es also alles eine Frage der Haltung ist: diese lebensbereichernde, lebensdienliche Haltung zu bewahren in Zeiten allergrößter eigener Not ist vermutlich das schwierigste, was es gibt.
Dazu ein Beispiel: ich werde manchmal mit Sätzen (von mir oder von anderen) konfrontiert, die da lauten „das soll GFK sein?“ oder „das war jetzt nicht gewaltfrei“ oder „du willst GFK Trainerin sein?“. Meist kommen solche Sätze, wenn ich richtig wütend bin. Hinter diesen Sätzen steckt vermutlich die Grundannahme, dass Menschen, die sich mit GFK beschäftigen, immer lieb und nett sind. Das ist ein Irrtum. Menschen, die versuchen in Giraffensprache zu kommunizieren, sind in erster Linie Menschen, sie sind nicht Jesus, Buddha, Gott oder Heilige oder oder oder. Sie haben auch ihre Lebenserfahrungen gemacht, sie können auch richtig wütend sein, sie haben ihre Traumatisierungen und Ängste erlebt und tun das noch immer. Und in Zeiten größter Not und Sorgen ist es auch für sie schwierig, mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in Verbindung zu bleiben, sie werden genauso getriggert wie Menschen, die keine GFK machen. Der Unterschied ist der: wie geht man mit solchen Situationen um? Bleibt man in dem eigenen bewertenden Kopfkino, das da sagt der und das ist schlecht und böse und wenn die Welt nur anders wäre. Oder schaut man dann (nachträglich) auf die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der anderen Beteiligten und versucht, sich und die anderen zu verstehen? Die Frage ist also: wie gehen wir mit Enttäuschungen, Verletzungen, Wut, Schmerz um? Und wie bewusst treffen wir unsere Entscheidungen? Und immer wieder zu überprüfen: sehe ich die andere Person noch als Mensch? Oder als Katastrophe? Kann ich die Not des anderen sehen? Und kann ich sie sehen und dennoch für meine Bedürfnisse gehen? Oder glaube ich meine Bedürfnisse aufgeben zu müssen zum Wohle des anderen? Gibt es ein echtes UND oder ein entweder-oder? Und – ganz ehrlich – das ist oft genug richtig schwierig und dauert manchmal seine lange Zeit und braucht viel Empathie. Und es lohnt sich immer.
Marshall Rosenberg hat einmal gesagt: Giraffen sind nicht nett. Nett sind sie vor allem dann nicht, wenn sie für ihre eigenen Bedürfnisse sorgen und konsequent dafür gehen. Das kann manchmal sehr anstrengend sein für andere. Doch Giraffen haben auch dieses riesengroße Herz. Übertragen heißt das: es gibt neben dem authentischen Selbstausdruck immer auch die Empathie – für sich und für andere. Giraffen spüren, dass es nur Ehrlichkeit in Empathie und Empathie in Ehrlichkeit geben kann. Und dass letztendlich für nachhaltig tragfähige Lösungen die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller entscheidend ist. Nur ist es halt manchmal mit der Empathie für andere genau dann schwierig, wenn man selbst in großer Not ist und selbst Empathie braucht.
Dies ist ein weiterer Artikel der Serie „Schlüsselunterscheidungen der GFK“, dieses Mal zur Schlüsselunterscheidung „being giraffe vrs. doing giraffe“. Die Serie wird fortgesetzt.
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